Publikationen
Die Weiterbildung ins Zentrum
Beitrag von Jörg Tauss, Ernst Dieter Rossmann, Ulla Burchardt. In: Detlev Albers, Andrea Nahles (Hrsg.), „Linke Programmbausteine – Denkanstöße zum Hamburger Programm der SPD“, 2007.
Dieser Grundsatz gilt auch für die Programmentwicklung zum Thema Weiterbildung. Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß nicht, wohin er will. Deshalb: Der Entwurf des Leipziger Programms des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins von 1866 nennt als Kernziel „die Erzielung der größtmöglichen Volksbildung“. In Folgeprogrammen wie z.B. dem Eisenacher Programm von 1869 oder dem Gothaer Programm von 1875 wird dies dann konkreter gefasst als „obligatorischer Unterricht in Volksschulen und unentgeltlicher Unterricht in allen öffentlichen Bildungsanstalten“. Und so sehr Schulbildung in den Mittelpunkt gestellt wird, findet sich dennoch schon im Programm der Sächsischen Volkspartei, angenommen 1866 auf der Chemnitzer Gründungsversammlung, die Forderung nach „Herbeischaffung von Mitteln und Gründung von Anstalten zur Weiterbildung der der Volksschule Entwachsenen“. Später fordert die SPD in ihrem Görlitzer Programm von 1921 „Bildungsstätten für erwachsene Volksgenossen als freie Arbeitsgemeinschaften zum Aufbau einer lebendigen Volkskultur“.
Dieses kulturell-emanzipative Motiv nimmt das Godesberger Programm von 1959 auf, wenn es dekretiert, dass „Erziehung und Bildung […] allen Menschen die Möglichkeit geben [sollen], ihre Anlagen und Fähigkeiten unbehindert zu entfalten“ und weiter feststellt: „Ein modernes Bildungswesen für Erwachsene muss Gelegenheit geben, Wissen, Urteilsvermögen und Fähigkeiten auch nach Beendigung der Schulerziehung zu erwerben und zu vertiefen, die für mitverantwortliches Handeln im demokratischen Staat unentbehrlich sind“. Erst das Berliner Programm von 1989 bindet Weiterbildung dann über den vorrangig humanistischen Bildungsanspruch hinaus explizit ein, einerseits in den raschen Strukturwandel der Ökonomie und die Qualifizierung der Arbeitskraft und andererseits die Entwicklung neuer Lebensperspektiven
nach dem Beruf und die Chancen auf gesellschaftliche Mitwirkung für ältere Menschen. Konkret ist vom Ausbau „der Weiterbildung als kommunaler Pflichtaufgabe zur vierten Säule des Bildungswesens“ die Rede. Präzisiert wird dieses Ziel mit den Forderungen nach einem „ausreichenden Angebot öffentlicher und öffentlich geförderter Weiterbildung“, nach einer Kostenbeteiligung der Unternehmen an Aus- und Weiterbildung, einem Recht auf lebenslange Aus- und Weiterbildung in der Erwerbsarbeitszeit, abgesichert durch einen gesetzlichen Zeitanspruch. Die Weiterbildungszeit soll mindestens der Zeitspanne der Erstausbildung entsprechen. 1. Bildung, und damit auch 2. Weiterbildung für alle, öffentliche, speziell auch kommunale Verantwortung für Angebote und deren Finanzierung sowie 3. Rechtsansprüche auf Weiterbildungszeit gegenüber den Arbeitgebern – diese drei Konstanten in der sozialdemokratischen Programmatik sind identitätsstiftend bis in die Gegenwart hinein.
Der Durchbruch von Hamburg und die richtige Spur
In ihrem Entwurf für das Hamburger Programm 2007 treibt die SPD diese Linie konsequent weiter voran. Für das Prinzip des Lebenslangen Lernens als Paradigma der lernenden Gesellschaft der Zukunft ist hiermit ein Durchbruch möglich. Analysen und Begründungen für die ökonomische und demographische Notwendigkeit von Weiterbildung im globalen, europäischen und nationalen Kontext liegen ausreichend vor. Die sozialdemokratisch inspirierte Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 gibt hierfür unter dem Leitmotiv von Innovation den Forschung und Entwicklung wie auch Bildung und Weiterbildung integrierenden Hintergrund ab. Der 1. Nationale Bildungsbericht für Deutschland aus dem Jahr 2006 zeigt zugleich auf, wie sehr Weiterbildung in Deutschland in Rückstand geraten ist. Mit ihren Eckpunkten für ein sozial gerechtes und leistungsfähiges Bildungssystem hat das neu gegründete Forum Bildung der SPD, hierbei wesentlich getragen durch Vorarbeiten aus dem Kreis der Linken in der SPD, Vorschläge erarbeitet, die sich jetzt auch im Entwurf für das neue Grundsatzprogramm wieder finden. Das Gesamtkonzept „Mehr Bildung für alle – von Anfang an und ein Leben lang“ bietet die Chance, an den sozialdemokratischen Erfolg aus den 70er Jahren anzuknüpfen, in denen unter dem Leitgedanken „Mehr Chancengleichheit durch Bildung“ die Mobilisierung einer ganzen Generation gelungen ist. Bildung hat eine doppelte Wirkungskraft. Sie ist Mittel der individuellen Emanzipation und der Persönlichkeitsentwicklung und sie ist gleichzeitig „Treiber“ der gesellschaftlich-ökonomischen Innovation und der Produktivkraftentwicklung. Dies bildet sich im Entwurf darin ab, dass Weiterbildung konkret durchbuchstabiert wird in den zwei Abschnitten „Gute Arbeit: Flexibilität braucht Sicherheit“ und „Weiterbildung in der lernenden Gesellschaft“. Allerdings wird gerade aus dem Verständnis von Weiterbildung als Produktivkraft für neue Wertschöpfung und Innovation darauf zu dringen sein, dass neue Ideen der SPD, wie eine Beschäftigungsversicherung, zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit dann auch in diesen ökonomisch-innovativen Zusammenhang mit eingeordnet und dort programmatisch entfaltet werden. Weiterbildung muss endlich heraus gelöst werden aus einem einseitigen Zusammenhang von Arbeitslosigkeit, Bildungsdefiziten und nachholendem Lernen. Natürlich wird gerade die SPD aus guten Gründen von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit auch die kompensatorische Seite von Weiterbildung ernst nehmen und das Recht auf eine zweite Chance einfordern und politisch fördern. In der Wissensgesellschaft der Zukunft müssen aber vor allem Weiterbildung und Innovation miteinander assoziiert werden.
Der programmatische Durchbruch pro Weiterbildung muss deshalb im Programm erst grundsätzlich auf die richtige Spur gebracht werden. Weiterbildung darf eben nicht vorrangig eine Frage des „vorsorgenden Sozialstaats“ sein. Im 21. Jahrhundert der globalen Konkurrenz von Wissensgesellschaften und –ökonomien sind Weiterbildung und Lebenslanges Lernen viel mehr denn je eine unverzichtbare Grundlage für
den „leistungsfähigen Wohlfahrtsstaat“. Konkret: ohne Lebenslanges Lernen keine öffentlichen und privaten Güter auf hohem Niveau und kein persönlicher Aufstieg und persönlicher Anteil am gemeinsam geschaffenen allgemeinen Reichtum. Das sozialdemokratische Credo bleibt hier die Chancengleichheit für alle, von Anfang an und immer wieder neu, ein Leben lang.
Der Paradigmenwechsel und die konkrete Utopie
Es ist deshalb mehr als nur eine fiskalische Betrachtung, wenn nach dem Entwurf des neuen Grundsatzprogrammes Bildungsausgaben in Zukunft unter den Investitionsbegriff fallen sollen. Hiermit wird vielmehr ein Paradigmenwechsel vorbereitet, den Ökonomen verkürzt als Aufwertung des Humankapitals gegenüber dem Sachkapital beschreiben würden, und den Sozialdemokraten stattdessen als Anerkennung von Menschen als Trägern von Bildungswerten und Bildungsmöglichkeiten, in die also „investiert“ werden muss, in das Zentrum ihrer Zukunfts-Agenda stellen müssen. Der Entwurf für das Hamburger Programm formuliert hier: „Es ist die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass Bildung unabhängig von der Herkunft für alle gleichermaßen zugänglich ist. Die öffentlichen Ausgaben für Bildung müssen steigen. Sie müssen mit der wachsenden Bedeutung von Bildung Schritt halten. Bildungsausgaben müssen als Investitionen anerkannt werden. Investitionen in die Menschen müssen Priorität bekommen. Wir brauchen eine Kultur der zweiten, der dritten Chance.
Wer im Laufe seines Lebens in eine Sackgasse geraten ist, muss die Möglichkeit haben, Schulabschlüsse gebührenfrei nachzuholen und berufliche Abschlüsse zu erwerben.“ Und was sich hier konkret als Grundrecht auf zusätzliche Bildungschancen findet, setzt sich mit erfreulich konkreten Aussagen zur Weiterbildung dann fort: „Wir wollen
die Weiterbildung zur vierten Säule des Bildungssystems ausbauen und den Aufstieg durch Bildung für alle möglich machen. Auch diese vierte Säule steht in der öffentlichen Verantwortung. Damit die Menschen sich engagiert fortbilden, wollen wir sie durch Freistellungsansprüche und finanzielle Förderung unterstützen. […] Wir brauchen dafür gemeinsame Lösungen der Politik, der Tarifpartner und der Betriebe. Wir werden die Arbeitslosenversicherung zu einer Beschäftigungsversicherung weiterentwickeln und damit einen Beitrag zur Finanzierung der Weiterbildung leisten. […] Damit die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen bei niemandem an finanziellen Hürden scheitert, benötigen wir eine Neuordnung und Weiterentwicklung staatlicher Weiterbildungsförderung.“
Mit der Einführung einer Beschäftigungsversicherung wollen wir den Schwerpunkt auf den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und der steigenden Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer legen. Dazu gehört ein Rechtsanspruch auf Weiterbildung, qualifizierungsangebote miteinander zu verzahnen und die Einrichtung von zentralen Lernzeitkonten“, wie es an anderer Stelle im Programmentwurf noch erläuternd heißt. Wenn hier in der Programmgeschichte der SPD aus guten Gründen eine stärkere Hinwendung zur beruflichen Weiterbildung und ihrem Ausbau deutlich wird, wird die Teilhabe an Lebenslangem Lernen gleichwohl nicht nur auf die Beschäftigungsfähig keit bezogen, sondern begriffen als Kernelement einer erfüllten persönlichen und gesellschaftlichen Lebensführung. „Neben der beruflichen kommt deshalb der allgemeinen, politischen und kulturellen Weiterbildung eine wichtige Bedeutung zu. Volkshochschulen müssen dabei wieder eine wichtigere Rolle spielen“. So knüpft das Hamburger Programm hier an eine rote Traditionslinie aus den Zeiten der Weimarer Republik explizit an. So werden Weiterbildung für alle, öffentliche Verantwortung und Rechtsansprüche gegenüber Arbeitgebern damit auch im Entwurf für das Hamburger Grundsatzprogramm Identitätsmerkmal der sozialdemokratischen Weiterbildungspolitik bleiben. Weitere Präzisierungen und Zuspitzungen sind allerdings noch wünschenswert. Natürlich ist Weiterbildung gemeinschaftlich zu finanzieren. Anders als die gebührenfreie Ausbildung vom Kindergarten an bis einschließlich des Erststudiums, die für die SPD auch in Zukunft prinzipiell gebührenfrei bleiben sollen, muss diese geschehen in einer Kombination aus Finanzierungsanteilen des Staates einerseits und der Wirtschaft und des Individuums andererseits, und zwar je nach Grad der Finanzierungsmöglichkeiten und des wirtschaftlichen Zugewinns. Ein solches spezielles Weiterbildungsförderungsgesetz als Teil eines allgemeinen Bildungsgesetzbuches für das 21. Jahrhundert, wie das Sozialgesetzbuch positives Erbe des 20. Jahrhunderts ist, wird dem Programm noch weiteres Profil und weitere Schärfe geben. Das öffentlich ausgestaltete Bildungsguthaben, der persönliche gut beratene Bildungsgutschein für Weiterbildung werden hier gegen das individuelle
Bildungssparen und die vorrangige Privatisierung der Weiterbildungsfinanzierung durch die Konservativen und die Neo-Liberalen zu setzen sein. Und wo, anders als im schulischen und hochschulischen Bereich, staatliche Qualitätssicherung nicht vorrangig über die Trägerschaft garantiert wird, gehört auch ein System der öffentlichen
Qualitätssicherung für den breit aufgestellten und vielfach subsidiär organisierten Weiterbildungsbereich in diese sozialdemokratische Zukunftsprogrammatik hinein.
Anspruch und Wirklichkeit – Der Kampf um die Köpfe
In dieser roten Traditionslinie sind dann aber auch schon die Konflikte vorgezeichnet, die der SPD bei der Umsetzung dieses sozialdemokratischen Aufbruchs für mehr Weiterbildung entgegenstehen werden. Natürlich sind dies die klassischen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, was die Bereitschaft von Unternehmen angeht, Rechtsansprüche
auf Bildungszeit, Bildungsfinanzierung und Bildungsqualität für Arbeitnehmer zu akzeptieren und Weiterbildung über unmittelbare betriebsbezogene Fortbildung zu fördern. Diesen Kampf wird die SPD durchfechten müssen, wenn sie einmal mehr ihrer historischen Aufgabe gerecht werden will, Wegbereiter für neuen und nachhaltigen Fortschritt zu sein. Mit dem Konzept einer Beschäftigungsversicherung wird angeknüpft an die SPDLinie einer allgemeinen Bürgerversicherung aus dem Bereich der sozialen Sicherungssysteme. Zugleich bekennt sich die SPD hiermit dazu, dass gerade Weiterbildung auch in Zukunft in der Finanzierung am Faktor Arbeit angebunden bleibt, selbst wenn wir uns für einen großen Anteil einer Wertschöpfungsfinanzierung und Steuerfinanzierung einsetzen. Der Tendenz, die Beiträge der Arbeitslosenversicherung immer weiter aus prinzipiellen Gründen zu senken, muss deshalb aber auch von SPDSeite im Ansatz widersprochen werden. Diese Logik hat leider im Zuge der Hartz-Gesetze und ihrer brachialen Auswirkungen auf die Weiterbildungsangebote und
Trägerlandschaften schon verheerende Auswirkungen gehabt. Wenn die SPD mit dem Grundsatzprogramm eine glaubwürdige Alternative für Weiterbildung aufbauen will, wird sie hier dem neo-liberalen Zeitgeist á la McKinsey-gesteuerter Systemveränderer konsequent entgegen treten müssen. Dies eröffnet dann auch neue Chancen, mit wichtigen Bündnispartnern für Weiterbildung gemeinsam Zukunftskonzepte zu entwickeln. Nicht zuletzt die Gewerkschaften wie IG-Metall und ver.di, aber auch die IG-Bau haben hier wegweisende Tarifverträge auf den Weg gebracht, die gesetzgeberisch unterfüttert werden müssen. Analog der Mindestlöhne muss es Ansprüche auf Mindestqualifikation geben. Und die gewerkschaftliche Idee von branchenbezogenen Ausbildungsfonds braucht die Unterstützung durch ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz. Hier kann und muss die SPD Flagge zeigen.
Der Kampf um die Köpfe für Weiterbildung ist schließlich auch ein Werben um die Köpfe aus allen Generationen. Der Entwurf für das Grundsatzprogramm bringt deshalb aus dem Leitbild der lernenden Gesellschaft der Zukunft ganz gezielt die Lernangebote und Bildungsmöglichkeiten im Alter jenseits der Erwerbsphase auf die politische Tagesordnung. Wie lernfähig eine Gesellschaft insgesamt sein wird, entscheidet sich auch daran, wie bildungsbegeistert die 30% der Bevölkerung, die nach ihrem Arbeitsleben ohne formale Bildungspflichten und berufliche Anbindung sind, ihr Leben gestalten. Diese Köpfe zu gewinnen, sichert Zustimmung für Weiterbildung über die Generationen hinweg, d.h. eben für ein Lebenslanges Lernen. Die SPD hat die Chance, hier die sozialdemokratische Vision neu zu begründen: „Aufstieg und Teilhabe durch Bildung und Solidarität“.






