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16.06.2009 | Zensursula verhindern­ - Appell an die Vernunft der SPD-Bundestagsfraktion

Pressemitteilungen

Den nachfolgenden Brief hat Jörg Tauss an die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion versandt.

Liebe Genossinnen und Genossen,

gestern Abend meldet der wichtigste deutsche Internet-Nachrichtendienst unter heise.de bereits, dass das innerhalb von Partei und Fraktion umstrittene Gesetz zur Web-Sperre „in trockenen Tüchern“ wäre. Martin Dörmann hätte sich für die SPD-Fraktion mit der Union „auf eine gemeinsame Linie beim Gesetzentwurf“ über die Internet-Sperren geeinigt (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/131/1613125.pdf), der für diese Woche Donnerstag zur Entscheidung in 2./3. Lesung ansteht.

Die Verhandlungsführerin der CDU/CSU Martina Krogmann erklärte sich laut diesem Bericht jedenfalls „sehr zufrieden mit dem Ergebnis". Martin Dörmann hätte in der Verhandlung mit der Union zwar die Forderungen aus dem Beschluss des Parteivorstands vom Wochenende präsentiert. Drei der vier von der SPD verlangten Punkte wären aber sowieso im Einklang mit der Union vorab in den gemeinsamen Änderungsplänen der Berichterstatter umgesetzt worden. Die weitergehende Forderung des Beschlusses des Parteivorstandes, die geheime Zensur-Liste des BKA durch ein unabhängiges Gremium durch den Bundesdatenschutzbeauftragten kontrollieren zu lassen, wäre nicht umsetzbar, da dieser bereits erklärt hat, dafür nicht zur Verfügung zu stehen und auch nicht gefragt worden sei. Dies wirft ein bemerkenswertes Licht auf den PV-Beschluss. (mehr auf heise.de)

Auch wenn die Union auf den Wunsch eingegangen ist, durch ein Spezialgesetz für eine bessere Einschränkung der Web-Blockaden auf Kinderpornographie zu sorgen, meine ich, dass die SPD-Fraktion diesem Gesetz auf keinen Fall zustimmen darf! Selbst wenn sie dann Dank des Ehemanns der Kollegin Martina Krogmann, dem stellvertretenden Chefredakteur der BILD-Zeitung, ganz sicher mit Kritik der Springer-Presse rechnen müsste.

Dabei geht es mir wohlgemerkt nicht um das Thema, das die Union und von der Leyen zur Begruendung der Internet-Sperren anführt. Aufgrund persönlicher Betroffenheit würde ich mich dazu auch nicht in dieser Weise an Euch wenden. Mir geht es vielmehr um etwas ganz Grundsätzliches, zu dem ich nicht schweigen will - gerade weil ich ab der kommende Periode der Fraktion nicht mehr angehören werde:

Die Grundwerte der SPD sind Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Sie sind unser „Markenkern“. Noch vertrauen viele technikaffine junge Menschen – besonders die sogenannte „Generation C64“ – darauf, dass wir als Rechtstaatspartei die Freiheiten verteidigen, die unsere Genossinnen und Genossen in der Vergangenheit für unser Land erstritten haben. Dieses Gesetz würde jedoch eine Zäsur bedeuten: Zum ersten Mal seit 1949 würde die SPD im freien Teil Deutschlands eine Infrastruktur mit beschliessen, bei der *auf Basis einer geheimen Liste einer Polizeibehörde* *Inhalte im Internet zensiert werden können*.

Trennt das bitte gedanklich für eine Sekunde vom Thema, um das es vermeintlich gehen soll. Auch wenn es höchst problematische Inhalte sind: Das gab es noch nie! Auch wenn wir in der Vergangenheit entschieden gegen andere problematische Inhalte, wie z.B. Rechtsradikalismus oder Bomben-Bau-Anleitungen, vorgegangen sind: Nie hätten wir dabei Zensur für das richtige Gegenmittel gehalten! Wieso jetzt auf einmal? Vor allem, da es höchst zweifelhaft ist, dass dieses überhaupt wirken kann? (Hierzu ein weiterer Artikel auf heise.de)

Die TAZ hat gestern daher auch zu Recht kommentiert: „Was hier passiert, das muss der SPD klar sein, ist ein Dammbruch“ (Zum Artikel). Denn, „diejenigen, die die nun aufzubauende Zensurinfrastruktur für andere "heiße Themen" einsetzen wollen, stehen bereits Gewehr bei Fuß. So schrieb auf Abgeordnetenwatch.de der CDU-Abgeordnete Thomas Strobl, die Sperren von Kinderpornos sollten doch "mit Blick auf Killerspiele neu diskutiert" werden. Als Nächstes ist dann die Musikindustrie dran, die Seiten mit Raubkopien gesperrt wissen will. Oder es geht um Websites mit Glücksspielen, die hiesigen Lottogesellschaften Konkurrenz machen. Und irgendwann um umstrittene Meinungsäusserungen.“

Dass dieses kein Hirngespinst eines „freakigen“ Fraktionskollegen ist, mag vielleicht die () verdeutlichen, mit der die Union gestern das Scheitern des Initiativantrages „Löschen statt Sperren: Kinderpornographie wirksam bekämpfen, Internetzensur verhindern!“ von Björn Böhning und vielen anderen bekannten Genossinnen und Genossen vom Sonntag feiert: „Damit ist eine gefährliche Entwicklung gestoppt worden. Unter Berufung auf eine angebliche Internetzensur durch den Staat wollten die Linksaußen in der SPD durchsetzen, dass das Internet zum rechtsfreien Raum wird. Die SPD wäre dadurch Gefahr gelaufen, Straftaten im Internet Vorschub zu leisten, von der Vergewaltigung und Erniedrigung kleiner Kinder* bis hin zu Urheberrechtsverletzungen in breitestem Ausmaß gegenüber Künstlern und Kreativen*.“ In der gleichen Meldung heißt es zwar danach (!) noch: „Dabei machen wir – gerade als Medienpolitiker – ganz klar: Zugangssperren im Internet müssen und werden einzig und allein auf kinderpornographische Seiten beschränkt bleiben.“

Doch die Denkweise wird damit offenbart: Es geht der Union allein darum, mit Hilfe der SPD die „Büchse der Pandora“ zu öffnen und eine Zensur-Infrastruktur zu schaffen, die nicht nur technisch im Iran oder in China auf Interesse stösst, sondern später ebenfalls auch für alle möglichen anderen Zwecke eingesetzt werden kann. Wenn die Infrastruktur einmal steht, dann bedarf es dazu nur noch einer Erweiterung des Gesetzes durch einfache Mehrheit oder durch absehbare Gerichtsurteile.

Kein Wunder, dass sich fast alle Experten gegen die Gesetzesinitiative aussprechen (siehe heise.de) und FDP, Gruene und LINKE sie gemeinsam mit nahezu ALLEN Experten in zwei Anhörungen abgelehnt haben und selbst der Bundesrat erhebliche Bedenken angemeldet hat.

Kein Wunder, dass in nicht einmal zwei Monaten mehr als 128.000 Menschen die Petition "Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten" von Franziska Heine unterzeichnet haben – so viele wie keine Petition des Bundestages je zuvor.

Und kein Wunder, dass bei der Europawahl fast ein Prozent der (jungen) Wählerinnen und Wähler in Deutschland die „Piratenpartei“ gewählt haben, deren wichtigster Programmpunkt der Kampf gegen dieses Gesetzesvorhaben ist, dem wir am Donnerstag zustimmen sollen. In Schweden, von denen wir das Konzept dieser Internet-Sperren verschärft übernehmen sollen, hat diese Partei bereits 7,1% der Stimmen für sich mobilisieren können!

Liebe Genossinnen und Genossen,

durch eine Zustimmung zu diesem Gesetz kann die Sozialdemokratie in Deutschland nur verlieren: Den Jugend- und Online-Wahlkampf und im schlimmsten Fall sogar eine ganze Generation von technisch aufgeklärten Menschen. Natürlich bläst uns nicht nur bei diesem Thema medial der Wind ins Gesicht. Wir hatten als SPD dagegen jedoch immer das erfolgreiche Rezept: „Mundfunk schlägt Rundfunk“. Der „Mundfunk“ der heutigen Generation ist das Internet. Wir sollten mehr Sorge um unseren Ruf dort haben, als vor einzelnen negativen Schlagzeilen in der BILD.

Gewinnen kännen wir mit einer Zustimmung zu diesem Gesetz dagegen nichts: Die Union und Ursula von der Leyen wird sich in jedem Fall als entschiedenere Kämpfer gegen Kinderpornographie darstellen können – egal ob es der Wahrheit entspricht oder nicht. Wir werden die Union auf diesem Feld in keinem Fall an Zustimmung gerade bei den wertkonservativen Wählerinnen und Wählern überholen können.

Und selbst wenn es keine wahltaktischen Argumente gebe, diesem gefährlichen Unfug nicht zuzustimmen: Die SPD war immer die Partei der Freiheit. Bleiben wir es. Keine Zensur! Egal, aus welchen gut gemeinten Gründen auch immer.

Bitte verweigert dem Gesetzentwurf – selbst in der geänderten Form – daher Eure Zustimmung.

Herzliche Grüsse

Euer Jörg Tauss

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